Strategische Prioritäten:

Über vermeintliche Verwerfungen in den deutsch-türkischen Beziehungen und über die deutsche Kurdistan-Politik

Wer während der Merkel-Ära die Berichterstattung der bürgerlichen Medien über die Türkei verfolgte, konnte sich damals des Eindrucks nicht erwehren, dass die Bundesregierung und somit auch Europa dem erpresserischen Handeln des selbstherrlichen Despoten Erdoğan ohnmächtig gegenüberstehen. Das mediale Flaggschiff des deutschen Kapitals, die FAZ schrieb damals, dass »die erratische Regierung dabei (sei) die Türkei ins Autoritäre abdriften zu lassen«. Damit stünde die Flüchtlingsvereinbarung, »eine Vereinbarung, die dem wohlverstandenen Interesse beider Seiten dient, wozu ausdrücklich auch die humanitären und menschenrechtlichen Ansprüche an den Umgang mit Flüchtlingen gehören« auf der Kippe, so die FAZ weiter. Was aus dem »humanitären und menschenrechtlichen Ansprüchen« inzwischen geworden sind, ist hinlänglich bekannt.

Auch aus der Türkei war ähnliches zu hören. Kritische Stimmen meinten, dass die »deutsch-türkischen Beziehungen zum Zerreißen gespannt« seien und dass Erdoğan an »eine Verschwörung aus Deutschland« glaube, weshalb er mit der Eskalation der Flüchtlingskrise kontern würde. Durch die harsche Rhetorik Erdoğans wurde dieser Eindruck verschärft. Während vom Bundestag in »unmissverständlicher Empörung die Verbalattacken des türkischen Präsidenten zurückgewiesen« wurden, drohte der damalige Präsident des Europäischen Parlaments, Martin Schulz mit Blockade der Visafreiheit. Auf der anderen Seite beleidigten regierungsnahe türkische Medien Merkel mit Hitler-Vergleichen. Gute Beziehungen sehen anders aus, würde man meinen, oder?

Aber waren damals – und heute noch – die Beziehungen tatsächlich schlecht? Gab und gibt es irgendeinen Grund, der die vor mehr als 100 Jahren geschlossene und mit beiderseitigem beharrlichem Eifer gepflegte »deutsch-türkische Waffenbrüderschaft« ein jähes Ende setzen kann? Gab es damals und gibt es heute irgendwelche Verwerfungen in den deutsch-türkischen Beziehungen? Oder sollte man nicht von interessengeleiteten zeitweiligen Beziehungskrise zwischen den herrschenden Klassen in den beiden Ländern sprechen?

Die unschätzbare Bedeutung der Türkei für das deutsche Kapital

Bürgerliche Medien in der BRD, die gegenüber Erdoğan mit Häme nicht sparen, sind ansonsten stets vollen Lobes für die türkische Flüchtlingspolitik und für die geopolitische Schlüsselposition der Türkei. Während die damalige Bundesregierung sich für »den allergrößten Beitrag der Türkei bei der Bewältigung der Flüchtlingskrise« bedankte, würdigte die EU-Kommission die Türkei als »heute das beste Beispiel für die Welt insgesamt, wie wir mit Flüchtlingen umgehen sollten«, weshalb keiner das Recht hätte, »belehrend auf die Türkei einzuwirken, wenn es darum geht, wie man sich richtig verhält«. Schützenhilfe für Erdoğan leistete die Bundesregierung: »Wir können kein Schiedsrichter beim Thema Menschenrechte für die ganze Welt sein«. Und die EU bescheinigte der Türkei, »dass Millionen von Flüchtlingen in diesem Land ein sicheres Leben gefunden haben«.

Nachträglich ist zu konstatieren, dass aller Welt inzwischen bekannt ist, dass Millionen Flüchtlingen in der Türkei grundlegende Rechte verwehrt werden und sie keinen Zugang zu medizinischer Versorgung und Sozialleistungen erhalten – es sei denn, sie kämpfen für die unterschiedlichen islamistisch-terroristischen Banden in Rojava! Der Weltöffentlichkeit dürfte auch nicht entgangen sein, dass die Türkei »den humanitären und menschenrechtlichen Ansprüchen an dem Umgang mit Flüchtlingen« nachweislich nicht genügt. Selbst das wiederholte Erschießen von Flüchtlingen an der syrisch-türkischen Grenze ist nicht mehr zu verheimlichen. Doch das alles stößt in Berlin und Brüssel auf taube Ohren.

All diese Tatsachen zu ignorieren ist aber keineswegs ein Ausdruck von politischer Naivität. Im Gegenteil, diese Ignoranz ist das Ergebnis strategischer Prioritäten der BRD, die als zentrale Ordnungsmacht in Europa den »ungehinderten Zugang zu Märkten und Rohstoffen in aller Welt« (Verteidigungspolitische Richtlinien der Bundesregierung) erhalten will. Für die Interessen des deutschen Imperialismus hat die Türkei eine unschätzbare Bedeutung und Anbetracht dessen ist für die Bundesregierungen – egal welcher Couleur – die humanitäre Behandlung von Flüchtlingen und das Anklagen von alltäglichen Menschenrechtsverletzungen der Türkei sowie dessen schmutzigen Kriegs in Kurdistan zweitranging, ja gar verzichtbar. Die »strategische Imperative« (Klaus Naumann, ehem. Inspekteur der Bundeswehr) für das deutsche Kapital war und ist die stetige Unterstützung der türkischen Regierungen.

Es genügt ein Blick auf die Weltkarte, um die geopolitische Schlüsselposition der Türkei zu verstehen: Sie ist die einzige Landbrücke zwischen Schwarzem Meer und Mittelmeer, über den die Märkte, Energiequellen und Ressourcen im Kaukasus, Nahen und Mittlerem Osten sowie in Zentralasien erreicht werden können. Sie ist Herrin der beiden Meerengen des Marmarameeres, den die russischen Seestreitkräfte als Zugang zum Mittelmeer und darüber hinaus benötigen. Sie ist einer der weltweit wichtigsten Energieumschlagplätze. Das kann für die eigene »Energiediversität«, sprich für die Unabhängigkeit vom russischen Erdgas, dienlich sein. Sie ist ein verlässlicher NATO-Partner, der mit seiner modernisierten Militärmaschinerie die beabsichtigte »Neuordnung des Nahen und Mittleren Ostens« überwachen kann. Der militärisch-industrielle Komplex der Türkei wurde mit Hilfe deutscher Rüstungsexporte hochgezüchtet. Als Lizenznehmerin deutscher Rüstungskonzerne ist sie für die Umgehung der deutschen Rüstungsexportrichtlinien am besten geeignet. Als billiger Produktionsstandort für deutsche Güter sowie als Markt verspricht die Türkei mit ihrer jungen, aufstrebenden Bevölkerungsstruktur hohe Profite. Und nicht zuletzt ist die Türkei das Land, dem die Aufgabe zufällt, das »historisch beispiellose, ambitionierte, aber im schönsten Sinne eben auch europäische Unterfangen« (FAZ), nämlich das EU-Grenzregime, aufrecht zu erhalten.

Kontinuitäten

Es gab und wird – so lange die Klassenverhältnisse so sind, wie sie sind – es keine Bundesregierung noch im Ansatz daran denken, die Unterstützung der türkischen Regierung zu beenden. Die Kontinuitäten der »bewährten« deutsch-türkischen Waffenbrüderschaft, die gemeinsamen und manchmal sich widersprechend scheinenden Interessen der herrschenden Klassen in beiden Ländern und die gemeinsame Feindschaft gegen jegliche Freiheitsbestreben des kurdischen Volkes lassen etwas anderes nicht zu. Auch wenn es zeitweise in der veröffentlichten Positionierungen beiderseitig Misstöne zu hören sind, BRD-Politiker:innen mit »Beendigung des EU-Heranführungsprozesses« drohen (!) oder in den bürgerlichen Medien Erdoğan offen als »Despot« bezeichnen und Erdoğan wiederum mit immer wiederholten Vorwürfen wie »Deutschland unterstützt aus Neid an den Erfolgen der Türkei kurdische Terroristen« seinen innenpolitisch motivierten Schlammschlacht fortführt, ist es eine stets währende Konstante, dass die deutsch-türkische Partnerschaft wie »ein Fels in der Brandung« stehen bleibt.

Mehrere Tatsachen können das belegen. Sowohl die Merkel-Regierung als auch die jetzige Scholz-Regierung haben zu keiner Zeit an dem völkerrechtswidrigen Vorgehen der türkischen Armee in Rojava und an den tagtäglichen Bombardierungen ziviler Ziele auszusetzen gehabt. Ihre Unterstützung wurde nicht versagt. Im Gegenteil: die sogenannte »feministische deutsche Außenpolitik« sieht in der Türkei gerade in einer Zeit, in der mit türkischen Drohnenangriffen kurdische Frauen und Kinder umgebracht werden, weiterhin als einen »sehr verlässlichen Partner«. Die olivgrüne Außenministerin steht dabei in der Kontinuität der ehemaligen Bundeskanzlerin Merkel, die im August 2016 ausdrücklich ihre »Zustimmung und Sympathie« für den völkerrechtswidrigen Einmarsch türkischer Streitkräfte im Verbund mit den jihadistischen Terrorbanden öffentlich im Fernsehen kundtat.

Insofern ist zu konstatieren, dass die zeitweise in Erscheinung tretenden Verwerfungen in den deutsch-türkischen Beziehungen eben nur »Scheinbare« sind. Doch wie jede Kollaboration, folgt auch der Prozess der deutsch-türkischen Waffenbrüderschaft gewissen Regeln, in der die Interessenlage ambivalent sein kann. Es liegt in der Natur der imperialistisch-kapitalistischen Kollaborationen, dass auch der kleinere Partner sich situationsabhängig durchsetzen und besonders in tiefer werdenden Krisenzeiten den Takt vorgeben kann – wie die Türkei das machte, sahen wir während der sogenannten Flüchtlingskrise. Aber unabhängig von solchen Krisensituationen ist die geostrategische Lage der Türkei für die türkischen Machthaber eine enorm wichtige Karte, die sie in das Hegemoniespiel einbringen können. Das beeinträchtigt jedoch keineswegs die langfristige ausgelegte Partnerschaft mit der BRD.

Denn auch wenn der deutsche Imperialismus immer am längeren Hebel sitzt, so lassen gegenseitige Abhängigkeiten ein Auseinanderdriften der Partner nicht zu. Abgesehen davon sind scheinbare Verwerfungen in den Beziehungen ein willkommener Anlass für den deutschen Imperialismus ihre Außenpolitik weiter militarisieren zu können. So wird beispielsweise im Umgang mit der Flüchtlingsproblematik die Militarisierung des EU-Grenzregimes weiter vorangetrieben und eine zusätzliche Rechtfertigung für Auslandseinsätze der Bundeswehr geschaffen. Sowohl das EU-Türkei-Flüchtlingsabkommen als auch der sogenannte »Heranführungsprozess der Türkei an die EU« sind letztlich Mittel, um strategische, militärische und wirtschaftliche Interessen des deutschen Kapitals durchzusetzen.

Interessenkonflikte und »Faustpfand-Politik«

Es gehört auch zu den Kontinuitäten der deutsch-türkischen Beziehungen, dass zeitweise Interessenkonflikte ausgetragen werden müssen. So ist z. B. der Hauptgrund an der Erdoğan-kritischen Haltung in Teilen der Bundesregierung die Weigerung des AKP-Palast-Regimes, sich den strategischen Partnern völlig zu unterwerfen und Souveränitätsrechte abzugeben. Hinzu kommt noch das Festhalten der Bundesregierungen an der faschistoiden Gülen-Bewegung als »Dialog-Partner«. Erdoğan weiß zu gut, dass die BRD längst das wichtigste logistische Zentrum für das weltweit agierende Netzwerk der Gülen-Bewegung geworden ist und insbesondere staatliche Stellen der BRD diese Organisation als potenziellen Kooperationspartner behandeln. Trotz jahrelangen türkischen Aufforderungen weigern sich Bundesregierungen gegen diese faschistoide Geheimorganisation vorzugehen, was wiederum Ankara erzürnt und mit Drohungen wie »Öffnen der europäischen Grenzen für Flüchtlinge« hantieren lässt.

Doch die Flüchtlinge sind ein schwaches Faustpfand. Dem gegenüber kann der deutsche Imperialismus mit Stärkeren agieren. So z. B. mit Diskussionen über mögliche Einschränkung der Zollunion, was für die Türkei die ökonomische Achillesferse bildet. Ankara ist sich bewusst, dass nicht der Stopp des Heranführungsprozesses, sondern in erster Linie die Einschränkung der EU-Zollunion verheerende Folgen für die ohnehin gebeutelte türkische Wirtschaft hätte.

Auch wenn solche Einschränkungsdiskussionen eher eine symbolische Natur haben, werden sie jedoch von Ankara als das »Zähne zeigen des deutschen Kapitals« verstanden. Aber das AKP-Palast-Regime hat inzwischen auch gelernt, die deutsch-türkischen Beziehungen zu instrumentalisieren. Der Flüchtlingsdeal, der Heranführungsprozess in die EU, die strategisch wichtige Lage des Landes, ihre aktuellen Beziehungen zu Russland und ihre Rolle bei der sogenannten »Energiediversifizierung der EU« sowie ihre militärischen Aktionen im Nahen Osten haben Hebelwirkungen für die Durchsetzung von Forderungen gegenüber deutschen und europäischen Partnern entfaltet. Dazu gehören Seerechtsforderungen in der Ägäis und im Mittelmeer, ihre Kooperationsabkommen mit der lybischen Regierung und die Erhöhung des Drohpotentials gegen das EU- und NATO-Mitglied Griechenland sowie ihre engen Beziehungen zu Russland und zum Iran. Dazu gehören das vermeintliche Veto gegen einen NATO-Beitritt Schwedens und Finnlands sowie die Okkupationsdrohungen grenznaher syrischen Regionen.

Imperialistische Doppelmoral

Die Interessenskonflikte und die gegenseitige Faustpfand-Politik ändern aber nichts an der Ausweitung der Kooperation deutscher Rüstungskonzernen mit dem von ihnen auf- und ausgebauten militärisch-industriellen Komplex der Türkei. Die Kooperation des europäischen Konzerns Airbus mit dem türkischen Rüstungskonzern TAI bei dem Bau von Militärflugzeugen und beim Raketenbau mit der türkischen Staatsfirma Roketsan, die gemeinsame Munitionsproduktion von Rheinmetall und MKEK sowie mit dem BMC-Konzern bei der Produktion von gepanzerten Fahrzeugen oder die Kooperation der MTU Friedrichshafen bei der Entwicklung des türkischen Panzers »Altay« zeugen davon.

Aber die Doppelmoral des deutschen Imperialismus wird insbesondere bei dem Thema der Killerdrohnen mehr als offenkundig. Während die Killerdrohne »Bayraktar«, die aus einer Vielzahl von deutschen, europäischen, US-amerikanischen und kanadischen Einzelteilen besteht, in Kurdistan und auch gegen die armenische Bevölkerung in Artsakh zivile Blutbäder verursacht, wir die gleiche Killerdrohne in der Ukraine zu einer Ikone des »Freiheitskampfes der Ukrainer gegen die russische Besatzung« erkoren. Ehemalige und aktuelle deutsche Außenminister Sigmar Gabriel und Annalena Baerbock sowie die bürgerlichen Medien in der BRD sind sich nicht schade insbesondere hier die Türkei hochloben zu lassen.

Eigentlich könnte man sagen, dass gerade in Zusammenhang mit den Killerdrohnen die konsequent systematische Feindschaft des deutschen Imperialismus gegenüber der kurdischen Sache und dem Freiheitswunsch des kurdischen Volkes offen zu Tage tritt. Mit dieser Feindschaft, diesem Doppelmoral, der jahrzehntelangen Kriminalisierung jeglicher Bestrebungen von kurdischen Organisationen sich demokratisch zu betätigen, die Nutzung von ständigen Abschiebungen als Domestizierungsversuch von kurdischen Aktivist:innen und die offene Unterstützung des schmutzigen Kriegs der Türkei belegen klar und deutlich: Wie seiner Zeit in 1915 bei dem Völkermord an der armenischen Bevölkerung des Osmanischen Reiches deutlich war, ist die BRD und sind die herrschenden Klassen in der BRD heute aktive Mittäter am Genozid an dem kurdischen Volk. Der türkische Krieg gegen das kurdische Volk ist zugleich ein Krieg der BRD und der NATO.

Es steht außer Frage: für die Wahrung von strategischen, militärischen und wirtschaftlichen Interessen des deutschen Kapitals soll das kurdische Volk den Preis mit ihrem Blutzahlen!