Beginn einer neuen Ära?

Über die anstehenden Präsidentschafts- und Parlamentswahlen in der Türkei

März 2023

Als 1923 die Republik ausgerufen wurde, stand die junge türkische Republik vor massiven Problemen – innen- wie außenpolitischer Natur. Die Nationalstaatswerdung wurde mit Gewalt durchgesetzt. Während die kurdischen Aufstände blutig niedergeschlagen wurden, wurden christliche Minderheiten, insbesondere die anatolischen Griechen aus dem Land verdrängt. Der armenisch-assyrische Völkermord von 1915 sowie dessen Auswirkungen ab 1923 verhalfen der türkischen Bourgeoisie zur Kapitalakkumulation und führten zur Festigung ihrer Macht im Staate. Die Einparteiendiktatur unter Mustafa Kemal setzte den französischen Laizismus türkischer Prägung, das deutsche Handelsgesetz und das Strafrecht des faschistischen Italiens durch. Während die KP der Türkei verboten blieb, wurde jegliche sozialistische und demokratische Opposition verunmöglicht.

Die ambivalenten Beziehungen zur Sowjetunion und Persien verhalfen der jungen Republik zu einem Faustpfand bei ihren Beziehungen mit dem Westen. Während die Meeresengen am Bosporus und den Dardanellen den Zugang zum Schwarzen Meer unter die Kontrolle der türkischen Machthaber brachten, wuchsen die diplomatischen Konflikte um die ägäischen Inseln und Zypern sowie mit Syrien und dem Irak. Auch die sog. »deutsch-türkische Waffenbrüderschaft« wurde trotz der Niederlage beider Staaten im I. Weltkrieg weitergepflegt und intensiviert. Das deutsche Kapital wurde wieder zur wichtigsten Stütze der herrschenden Klassen in der Türkei.

Heute, 100 Jahre nach der Gründung der Republik sind sämtliche Probleme, vor denen das Land 1923 stand, weiterhin akut. Die kurdische Frage bleibt trotz massiver Militärgewalt ungelöst, die Rechte der christlichen Minderheiten im Land immer noch sehr fragil. Die Islamisierung der gesellschaftlichen, kulturellen, wirtschaftlichen und politischen Verhältnisse hat immense Ausmaße erreicht, die Gesellschaft ist tief gespalten. Während das Land weiterhin NATO-Mitglied ist, werden die ambivalenten Beziehungen zu Russland und zum Iran aufrechterhalten und als Faustpfand für die Durchsetzung der eigenen Interessen in den Beziehungen zu den westlichen Ländern genutzt. Die Feindschaft zu den Nachbarländer Armenien und Griechenland wird als Staatsräson weitergeführt und bildet eine der Grundlagen der rassistisch-nationalistischen Staatsideologie. Teile des syrischen Territoriums ist unter türkischer Besatzung, die Bombardierungen von kurdischen Gebieten in der Türkei, in Syrien und im Irak gehen trotz der Erdbebenkatastrophe heute noch weiter. Inzwischen hat sich die Türkei zu einem Unrechtsstaat par excellence entwickelt. Zehntausende politische Gefangene werden weiter festgehalten und deren Familien werden durch das, als uferlos verstandene Feindstrafrecht umgesetzte »Terrorbekämpfung« von der Sippenhaft bedroht. Und: der deutsche Imperialismus ist weiterhin die wichtigste Stütze der herrschenden Klassen in der Türkei.

Aber wirtschaftlich geht es bergab. Die Inflation galoppiert von einem Rekord zum anderen, die Landeswährung Lira stürzt weiter ab, breite Bevölkerungsteile verarmen immer schneller, eine Bankrottwelle überrollt Klein- und Kleinstunternehmen und der Hegemoniekampf zwischen den unterschiedlichen Kapitalfraktionen verschärft sich immer mehr. Die Verschuldung der privaten Haushalte wird immer höher, die Arbeitslosigkeit hat längst die 20-Prozent-Marke überschritten. Während rund 11 Millionen Menschen im informellen Sektor, also ohne soziale Absicherung beschäftigt werden, müssen über 80 Prozent der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigten mit einem Mindestlohn von umgerechnet 440 Euro im Monat ihr Leben absichern, was kaum einen gelingt. Die Wählerbasis des AKP-Palast-Regimes bröckelt weiter und auch innerhalb der herrschenden Klassen wird Widerspruch laut artikuliert. Ohne Frage: die autoritär-neoliberale Politik des Regimes scheint in ihre Grenzen gekommen zu sein.

Wird Erdoğan abgewählt?

Die Erdbebenkatastrophe vom 6. Februar 2023 hat deutlich gemacht, dass das Regime unfähig war, binnen kurzer Zeit den von der Katastrophe betroffenen Menschen zu helfen und das Land, das neben einer tiefen Finanz- und Wirtschaftskrise, fest in der Zange einer Staatskrise steckt. Nach offiziellen Angaben starben über 50.000 Menschen, zahllose Gebäude sind derart beschädigt, so dass sie abgerissen werden müssen. Möglicherweise sind die Opferzahlen viel höher, da die Trümmer in Eile weggeschafft wurden und zehntausende Menschen als unauffindbar gelten. Diese Katastrophe und die Untätigkeit des Regimes haben dazu geführt, dass Erdoğan hohe Sympathiewerte verloren hat. Inzwischen werden sogar in regierungsnahen Medien Kritik an Regierungspolitik geäußert. Die Stimmung im Land ist sehr angespannt und Umfragen machen deutlich, dass die Wählerbasis des Regimes erheblich erodiert ist. Nach den am 14. März 2023 durchgeführten Umfragen der Forschungsinstitute könnte der Staatspräsident Erdoğan mit rund 43,2 Prozent von dem Kandidaten des bürgerlich-nationalistischen 6-Parteien-Bündnis Kemal Kılıçdaroğlu, der rund 52,4 Prozent Unterstützung erhält, geschlagen werden. Zumal das linke »Bündnis für Arbeit und Freiheit«, welches von der HDP und weiteren sozialistischen Parteien sowie kommunistischen Organisationen gebildet wird, keinen eigenen Kandidaten aufgestellt und erklärt hat, Kemal Kılıçdaroğlu zu unterstützen. Es war schon lange klar, dass dem »Bündnis für Arbeit und Freiheit« bei diesen Wahlen die Schlüsselrolle zufallen würde.

Bei den für den 14.Mai 2023 angesetzten Präsidentschafts- und Parlamentswahlen treten Parteienblöcke gegeneinander an. Während Kılıçdaroğlu mit dem 6-Parteien-Bündnis, dem sog. »Bündnis der Nation«, bestehend aus der Republikanischen Volkspartei (CHP), der ultranationalistischen IYI Partei, der konservativen Demokrat Parti, der islamistischen Glückspartei (Saadet Partisi) und den AKP-Abspaltungen Zukunftspartei (Gelecek Partisi) und Demokratie- und Aufschwungspartei (DEVA) antritt und von dem linken »Bündnis für Arbeit und Freiheit« sowie einigen kleineren linken Parteien unterstützt wird, tritt die AKP Erdoğans mit der faschistischen Partei der nationalistischen Bewegung (MHP) in der »Volksallianz« an. Dem »Volksallianz« gehören inzwischen die legale Partei der kurdisch-jihadistischen Hisbollah, die in den 1990er Jahren zahlreiche kurdische und linke ermordet hat, Hüda-Par, die MHP-Abspaltung Große Unionspartei (BBP) und inzwischen auch die islamistische »Wieder Wohlstandspartei« (Yeniden Refah Partisi) an. Damit ist die »Volksallianz« ein offen islamistisches, ultranationalistisches und rassistisches Bündnis geworden, die in allen Bereich des Staatsapparats eingedrungen ist. Das ist auch der Grund, warum die Hohe Wahlkommission einstimmig die Zulassung der Kandidatur Erdoğans beschlossen hat, obwohl nachweislich diese Kandidatur verfassungswidrig ist.

Nach der Erdbebenkatastrophe konnten die Parteien des »Bündnisses für Arbeit und Freiheit« im Erdbebengebiet aufgrund ihres aufopfernden Einsatzes viele Sympathien gewinnen, so dass die sozialistischen Bündnisparteien wie die Türkische Arbeiterpartei (TIP) und die Partei der Arbeit (EMEP) zeitweise daran dachten, eigenständig anzutreten. Zudem war mit dem Verbotsverfahren gegen die HDP deren Wahlbeteiligung gefährdet. Doch das Bündnis konnte sehr schnell sich darauf einigen, dass die Bündnispartei »Grüne Linkspartei« (Yeşil Sol Parti) als Dachpartei des Bündnisses aufgestellt wird. Während EMEP unter dem Dach der »Grünen Linkspartei« antritt, versucht die TIP mit einem Logo an den Wahlen teilzunehmen. Die HDP hat zudem beschlossen, viele ihrer derzeitigen Abgeordneten wegen des möglichen Betätigungsverbots nach dem Parteienverbot nicht aufzustellen. Dank der Wandlungsfähigkeit und Flexibilität konnte das »Bündnis für Arbeit und Freiheit« eine wirksame Strategie gegen das Verbotsbegehren des Regimes entwickeln. Dass diese Strategie auch von den Wähler:innen angenommen wird, zeigten die zahlreichen Parteifahnen der »Grünen Linkspartei« während der Newroz-Feierlichkeiten, an denen Millionen teilgenommen haben. Aufgrund der Tatsache, dass die Zahl der linken Bündnisabgeordneten sich verdoppeln könnten, hat Kılıçdaroğlu die HDP-Gruppe im Parlament besucht und positive Signale an die kurdische Bevölkerung abgegeben.

Insofern ist es möglich, dass Erdoğan abgewählt und das AKP-Palast-Regime abgelöst wird. Aber noch hat das Regime ihre Trümpfe nicht ausgespielt. Ihre Repressionsstrategie ist weiterhin wirksam und sie verfügt mit der weiteren Militarisierung der kurdischen Frage über eine durchaus bewährte Option zur Erhöhung ihrer Zustimmungswerte. Zumal eine weitere Militarisierung oder gar ein Krieg sehr schnell die 6-Parteien-Opposition hinter die AKP-Politik einreihen und die Bildung einer artikulationsfähigen Opposition unterbinden würde. 

Wein in neuen Schläuchen?

Unabhängig davon, ob Erdoğan abgewählt wird oder nicht, ist es noch nicht sicher, dass eine neue Ära in der Türkei eingeläutet wird. Denn schaut man sich das Wirtschaftsprogramm des 6-Parteien-Bündnisses an, sieht man deutlich eine neoliberale Handschrift. Zwar steht in diesem Papier, dass »die Bündnisparteien die Unabhängigkeit der Zentralbank sowie die Autonomie der Marktkontrollkommissionen wiederherstellen, Budgetdisziplin einführen, Korruption und den informellen Sektor bekämpfen« und »allgemeingültige ökonomische Prinzipien gemeinsam einhalten« werden. Gleichzeitiges Einschwören auf die »Wiederherstellung der Gewaltenteilung, der freiheitlichen Ordnung, einer auf Vielfalt und Antidiskriminierung setzenden parlamentarischen Demokratie, die Verteidigung der Meinungs- und Pressefreiheit, Sozialstaatlichkeit, der Entwicklung einer produktions- und beschäftigungsfördernden Ökonomie sowie einer Außenpolitik, die auf gegenseitigen Respekt und EU-Perspektive setzt« macht deutlich, dass man breite Gesellschaftsschichten überzeugen möchte.

Dabei beinhaltet dieses Programm genau die gleichen Instrumente wie das nach der Krise von 2001 umgesetzte Stabilitätsprogramm. Auch damals machten die »Unabhängigkeit der Zentralbank« und die vorgesehenen »Ordnungsinstitutionen« die Räder der technokratischen Maschinerie aus. Das 6-Parteien-Bündnis schlägt im Grunde das Modell eines Marktautoritarismus vor, der schon zuvor die Gewerkschaften atomisiert hat. Zudem bedeutet die Rückkehr zum Programm von 2001 die Fortführung der Erosion der agrarischen und industriellen Produktion sowie die Verstärkung der Importabhängigkeit und eine weitere Erhöhung der Gesamtverschuldung. Es steht außer Frage, dass eine gleichzeitige Umsetzung einer solchen Wirtschaftspolitik und Ansätze einer wie auch immer gearteten Demokratisierung ausgeschlossen ist. Falls die bürgerlich-nationalistische Opposition nach ihrem eventuellen Wahlsieg dieses Programm umzusetzen beginnen sollte, wird jeder Schritt zur »Wiederherstellung der parlamentarischen Demokratie« im Keim erstickt.

Insofern kann dieses Programm als ein bürgerliches Restaurationsprojekt, welches die Wiedereinführung der Gewaltenteilung, die Eingrenzung der Befugnisse der Executive sowie Check- und Balancemechanismen vorsieht, bezeichnet werden. Noch ist es nicht ausgemacht, welche der Befugnisse des Präsidialsystems abgeschaltet werden sollen, aber dennoch wird auch eine Kılıçdaroğlu-Regierung nicht umhinkommen, die Nutzung von bürgerlichen Freiheiten und den friedlichen Umgang mit der kurdischen Bevölkerung wieder zuzulassen.

Das ist sicherlich als eine positive Entwicklung, sogar als eine Erhöhung der Wirksamkeit linker und demokratischer Kräfte zu bewerten, ohne sie zu überbewerten. Unter einer Kılıçdaroğlu-Regierung können durchaus über gesellschaftliche Kämpfe einiges an demokratischen Errungenschaften wieder zurückerlangt werden, aber man sollte es nicht vergessen, dass es hierbei um eine Restauration zugunsten der herrschenden Klassen handeln wird. Trotz alledem ist die Ablösung des AKP-Palast-Regimes derzeit das wichtigste gesellschaftliche Bedürfnis. Auch wenn eine Regierung der bürgerlichen Restauration an die Macht kommen wird, wäre diese Ablösung zu begrüßen. Denn diese Veränderung kann dazu führen, dass ein Weg für neuen klassenkämpferischen und freiheitlichen Prozess eröffnet werden kann.Es ist nicht unmöglich, dass die linken, sozialistischen und kommunistischen Kräfte innerhalb des »Bündnisses für Arbeit und Freiheit« es schaffen können, die soziale Frage in den Mittelpunkt der möglicherweise gestärkten Oppositionspolitik zu stellen und reale Alternativen in der Wirtschafts- und Sozialpolitik zu entwickeln. Diesen Weg, nämlich an Klasseninteressen orientierten gesellschaftlichen und politischen Kampf zu forcieren, wird keine andere politische Kraft einschlagen. Kurzum, es scheint, dass in der Luft in Kleinasien, in der anatolisch-mesopotamischen Ebene Frühlingsduft liegt. Ob daraus ein heißer Sommer der vereinten Kämpfe herauswachsen kann, das wird sich noch zeigen müssen.